Ein Auftragnehmer darf nicht darauf vertrauen, dass er sich bei Vorliegen eines Kalkulationsirrtums von seinem Angebot lösen kann. Im Gegenteil. Der Auftraggeber muss den Zuschlag sogar auf dieses Angebot erteilen, wenn es den ersten Platz der Wertung erreicht. Ein Anfechtungsrecht des Bieters wegen fehlerhafter Kalkulation besteht nicht. Ebenso wenig wie ein Ausschlussrecht des Auftraggebers nach Erkennen des Kalkulationsfehlers.
Dies entschied das Oberlandesgericht Stuttgart (im Folgenden OLG Stuttgart) in seinem Urteil vom 16.05.2024 (2U 146/22). In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hat der Auftraggeber das fehlerhaft kalkulierte Angebot aus der Wertung ausgeschlossen, nachdem der Bieter im Rahmen der Aufklärung bestätigt hat, versehentlich bei einigen Einheitspreisen einen Kilopreis statt einen Tonnenpreis angeboten zu haben. Der Bieter wollte den Auftrag trotzdem haben und ging gegen seinen Ausschluss vor.
Zu Recht! Das OLG Stuttgart bestätigt mit seinem Urteil die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (im Folgenden BGH), der bereits in seiner Entscheidung vom 11.11.2014 (X ZR 32/14) klargestellt hat, dass ein Angebot im Vergaberecht bindend ist. Aus diesem Grund kann ein Unternehmen sein Angebot nicht einfach zurücknehmen, nachdem es einen Irrtum entdeckt hat. Da es sich bei einem derartigen Kalkulationsirrtum um einen unbeachtlichen Motivirrtum handelt, ist auch eine Anfechtung ausgeschlossen.
Für den Auftraggeber bedeutet das, wie das OLG Stuttgart ausführt, dass das Angebot nicht hätte ausgeschlossen werden dürfen. Keinen der möglichen Ausschlussgründe hat das Gericht hier anerkannt. Weder waren Preisangaben unbestimmt, noch wichen Angebotspreis und Urkalkulation voneinander ab, noch hat das Unternehmen unzulässig über eine Preisänderung verhandelt.
Die Entscheidung des OLG Stuttgart zeigt ein weiteres Mal, dass ein zwingender Angebotsausschluss die Ausnahme in einem Vergabeverfahren ist. Vielmehr ist ein Auftraggeber grundsätzlich daran gehalten, ein Angebot zunächst aufzuklären.
Im Falle eines Kalkulationsirrtums bleibt das Angebot sogar nach Bestätigung des Irrtums durch eine Aufklärung zuschlagsfähig und mitunter sogar „zuschlagspflichtig“. Dies gilt nach der oben zitierten Rechtsprechung des BGH selbst dann, wenn der Kalkulationsfehler so schwerwiegend ist, dass das Unternehmen die Leistung zu diesem Preis nicht mehr erbringen will.
Eine Grenze zieht der BGH bei denjenigen Extremfällen, in denen der Auftraggeber den Kalkulationsirrtum erkennt und
“wenn vom Bieter aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr erwartet werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer noch annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen.“
Da ein solcher Angebotsausschluss auf seltene Ausnahmen begrenzt bleibt, sind wegen der mitunter weitreichenden wirtschaftlichen Auswirkungen insbesondere auch Bieter daran gehalten, Verfahrensbedingungen und Verfahrensunterlagen präzise zu beachten.