Schwerbehinderten, die ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes (auch unwirksam) gekündigt wurden, können Entschädigungsansprüche gegen ihren Arbeitgeber zustehen

Unsympathetic employer pointing away and laying off injured employee with leg in plaster cast. Conceptual vector illustration for social issues like discrimination and prejudice.

Wie das LAG Baden-Württemberg in einem kürzlich veröffentlichen Urteil (vom 17.05.2021 – 10 Sa 49/20) entschieden hat, begründet die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers, wenn dieser den Arbeitgeber zuvor bereits über seine Schwerbehinderung in Kenntnis gesetzt hat, ohne die vorherige Einholung der Zustimmung des Integrationsamtes die Vermutung, dass dieser wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt wurde. Eine solche Kündigung, auch wenn der Arbeitgeber an dieser nicht mehr festhält, stellt nach Ansicht des LAG Baden-Württemberg einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot dar und kann eine Entschädigung von vier Bruttomonatsgehältern rechtfertigen.

1. Sachverhalt

Der Arbeitgeber kündigte das mit dem schwerbehinderten Arbeitnehmer bestehende Arbeitsverhältnis ohne vorherige Beteiligung des Integrationsamtes, obwohl ihm die Schwebehinderung bekannt war. Der Arbeitnehmer erhob darauf Kündigungsschutzklage und forderte den Arbeitgeber auf, an ihn eine Entschädigung in Höhe von mindestens drei Bruttomonatsgehältern zu zahlen. Der Arbeitgeber lehnte einen Anspruch auf Entschädigung mit Hinweis darauf ab, dass er ausschließlich aus betriebsbedingten Gründen gekündigt habe und im Rahmen der Sozialauswahl die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers „übersehen“ habe. Ferner erklärte der Arbeitgeber im Kündigungsschutzverfahren, dass er aus der Kündigung keine Rechte mehr herleite und den Arbeitnehmer weiterbeschäftigen wolle.

2. Entscheidung

Das LAG Baden-Württemberg sprach dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entschädigung in Höhe von vier Bruttomonatsgehältern zu. Der Arbeitgeber habe den Arbeitnehmer entgegen den Vorgaben des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sowie des Sozialgesetzbuches IX (SGB IX) unmittelbar wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt. Nach § 15 Abs. 1 AGG ist der Arbeitgeber bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nur dann nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Das Benachteiligungsverbot untersagt im Anwendungsbereich des AGG eine Benachteiligung u.a. wegen einer (Schwer-)Behinderung. Zudem dürfen Arbeitgeber nach § 164 Abs. 2 Satz 1 SGB IX schwerbehinderte Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Der Arbeitnehmer wurde nach Maßgabe dieser Bestimmungen – so das LAG Baden-Württemberg – bereits dadurch, dass er vom Arbeitgeber ohne Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt worden ist, unmittelbar wegen seiner (Schwer-)Behinderung benachteiligt. Der Arbeitnehmer muss zudem nicht beweisen, dass der Arbeitgeber ihn benachteiligen wollte. Auf ein schuldhaftes Verhalten oder gar eine Benachteiligungsabsicht des Arbeitgebers kommt es – so das LAG Baden-Württemberg – nicht an. Es läge dann am Arbeitgeber, Tatsachen vorzutragen und ggf. zu beweisen, aus denen sich ergibt, dass er den Arbeitnehmer nicht wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe. Für den Entschädigungsanspruch sei nicht erforderlich, dass dem Arbeitgeber bewusst gewesen sei, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert ist und er deshalb zunächst die Zustimmung des Integrationsamtes hätte einholen müssen. Es müsse nur der „Anschein einer Diskriminierung“ erweckt werden.

Der Verstoß der Beklagten gegen die Vorschriften des Sonderkündigungsschutzes für schwerbehinderte Arbeitnehmer wiege schwer. Auch sei von einem erheblichen Verschulden der Beklagten auszugehen. Anders als § 15 Abs. 2 AGG sehe § 15 Abs. 1, Satz 1 AGG bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot keine Kappungsgrenze auf drei Monatsgehälter vor. Eine Entschädigung von vier Bruttomonatsgehältern sei daher im konkreten Fall gerechtfertigt.

3. Praxishinweis

Arbeitgeber sollten vor Ausspruch einer Kündigung stets sorgfältig prüfen, ob für den betreffenden Arbeitnehmer ein Sonderkündigungsschutz besteht und – soweit erforderlich – die entsprechenden behördlichen Zustimmungen vor Ausspruch der Kündigung einholen. Anderenfalls laufen diese Gefahr, dass die betreffenden Arbeitnehmer nicht nur die Unwirksamkeit der Kündigung, sondern zudem Entschädigungsansprüche wegen eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes geltend machen können. 

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