„Mehr Fortschritt“? Der Koalitionsvertrag aus unternehmensrechtlicher Perspektive

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(Teil 1: Unternehmensrechtliche Mitbestimmung, Lieferketten und Nachhaltigkeit)

Anfang Dezember 2021 unterzeichneten SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP ihren Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Neben „kleineren“ Gesetzesanpassungen enthält das künftige Regierungsprogramm der sog. Ampel-Koalition einige Reformvorhaben, die sich im Falle ihrer Umsetzung grundlegend auf das Unternehmensrecht auswirken werden.

Im Folgenden sollen die geplanten Regelungsvorhaben in den Bereichen

  • unternehmensrechtliche Mitbestimmung,
  • Lieferketten und
  • Nachhaltigkeit

vorgestellt werden:

1.         Ausweitung der unternehmensrechtlichen Mitbestimmung

Ausweislich des Koalitionsvertrags nimmt „Deutschland bei der Unternehmensmitbestimmung eine weltweit bedeutende Stellung ein“. Geht es nach der Ampel-Koalition, soll diese Stellung ausgebaut und „weiterentwickelt“ werden. Unternehmen müssen sich deshalb auf umfassende Neuregelungen bei der Arbeitnehmermitbestimmung einstellen.

a)         Drittelbeteiligungsgesetz: Erweiterung der konzernrechtlichen Arbeitnehmerzurechnung

Wesentliche Anpassungen sind für die Arbeitnehmermitbestimmung im Rahmen des Drittelbeteiligungsgesetzes (DrittelbG) geplant.

Bislang findet im Rahmen des DrittelbG eine konzernrechtliche Arbeitnehmerzurechnung nur statt, wenn zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft ein Beherrschungsvertrag besteht oder die Tochtergesellschaft in die Muttergesellschaft entsprechend den §§ 319 ff. AktG eingegliedert ist (§ 2 Abs. 2 DrittelbG). In Zukunft soll für das Eingreifen der Arbeitnehmerzurechnung bereits eine rein „faktische Beherrschung“ zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft ausreichen. Dies wird dazu führen, dass künftig weitaus mehr Unternehmen den maßgeblichen Schwellenwert von 500 Arbeitnehmern überschreiten (§ 1 Abs. 1 DrittelbG) und somit den Mitbestimmungsregelungen des DrittelbG unterliegen werden.

Werden die maßgeblichen Schwellenwerte des DrittelbG überschritten, besteht eine gesetzliche Pflicht zur Beteiligung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der Gesellschaft. Im Fall der GmbH besteht sogar die Pflicht zur Bildung eines sonst nur rein fakultativen Aufsichtsrats.

Noch nicht absehbar ist, ob und inwieweit das bisher im Rahmen des Mitbestimmungsgesetzes anerkannte Instrument des Entherrschungsvertrages geeignet sein wird, das Eingreifen der Drittelbeteiligung zu vermeiden.

Unternehmen sollten sich frühzeitig mit der möglichen Neuregelung auseinandersetzen und ihre Handlungsoptionen prüfen.

b)        Abschaffung des „Einfriereffekts“ bei der Societas Europaea (SE)

Die Societas Europaea (SE) unterliegt bislang nicht originär den Regelungen zur Mitbestimmung (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 SEBG). Nach derzeitiger Rechtslage kommt es für die Frage der Mitbestimmung bei der SE lediglich auf den Zeitpunkt ihrer Gründung an. Nachträgliche Änderungen bei der Anzahl der Arbeitnehmer werden nicht berücksichtigt. Das heißt, die Vorschriften zur Arbeitnehmermitbestimmung finden auf die SE nur dann Anwendung, wenn die jeweiligen Arbeitnehmerschwellenwerte zum Zeitpunkt ihrer Gründung bereits überschritten wurden. Diesen „Einfriereffekt“ bei der unternehmensrechtlichen Mitbestimmung möchte die Koalition abschaffen. Eine vollständige „Mitbestimmungsvermeidung“ beim Zuwachs von SE-Gesellschaften wäre zukünftig nicht mehr möglich.

Wie die Ampel-Koalition diese Reformüberlegung konkret umsetzen möchte, ist derzeit noch vollends unklar. Beispielsweise bleibt abzuwarten, ob die Abschaffung des „Einfriereffekts“ lediglich auf neu errichtete Gesellschaften oder auch auf bereits errichtete Gesellschaften Anwendung finden soll. Offen ist zudem, wie die beabsichtigte Ausweitung der Arbeitnehmermitbestimmung rechtstechnisch umgesetzt werden soll. Fest steht jedoch, dass die Gesellschaftsform der SE an Attraktivität einbüßen dürfte, wenn die geplanten Reformvorhaben tatsächlich durchgeführt werden.

2.         Sorgfaltspflichten in Lieferketten

Bereits Mitte des Jahres erließ der nationale Gesetzgeber das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“. Das ab Januar 2023 geltende Gesetz regelt die Verantwortlichkeit deutscher Unternehmen für die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards in ihren internationalen Lieferketten und begründet entsprechende Sorgfalts- und Berichtspflichten. In ihrem Koalitionsvertrag bekräftigt die Ampel-Koalition, dass das Lieferkettengesetz unverändert umgesetzt und gegebenenfalls verbessert werden soll. Unternehmen bleiben somit noch etwa 12 Monate, um sich auf die bevorstehenden Sorgfaltspflichten des nationalen Lieferkettengesetzes einzustellen.

In ihrem Koalitionsvertrag teilt die Ampel-Koalition außerdem mit, ein wirksames EU-Lieferkettengesetz – basierend auf den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte – unterstützen zu wollen. Die Koalition befürwortet somit das laufende Gesetzgebungsverfahren auf europäischer Ebene, das zuletzt immer wieder ins Stocken geraten war.

Interessant wird hierbei vor allem sein, wie sich die Ampel-Koalition zur Frage einer möglichen zivilrechtlichen Haftung innerhalb von Lieferketten positionieren wird. Auf den letzten Metern des nationalen Gesetzgebungsverfahren wurde in das Lieferkettengesetz eine eindeutige Klarstellung aufgenommen, dass eine Verletzung der sich aus dem Gesetz ergebenden Sorgfaltspflichten keine zivilrechtliche Haftung von Unternehmen begründen kann. Anders verhält es sich hingegen auf europäischer Ebene. Hier wird vermehrt über die Verankerung einer zivilrechtlichen Haftungsgrundlage in das europäische Lieferkettengesetz diskutiert. In seiner Entschließung vom 10.03.2021 empfiehlt beispielsweise das Europäische Parlament eine Haftung von Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden in der Lieferkette, um potenziellen Opfern in Drittstaaten wirksame Rechtsbehelfe zum Ausgleich erlittener Schäden zur Verfügung zu stellen.

3.         Stärkung des „gemeinwohlorientierten Wirtschaftens“

Wie der Titel des Koalitionsvertrags bereits erahnen lässt, nimmt der Aspekt der Nachhaltigkeit einen Schwerpunkt innerhalb des künftigen Regierungsprogramms ein. Die Ampel-Koalition beabsichtigt, „die rechtlichen Rahmenbedingungen für gemeinwohlorientiertes Wirtschaften“ zu verbessern und eine „nationale Strategie für Sozialunternehmen“ zu erarbeiten. Insofern ist zu erwarten, dass die Themen Corporate Social Responsibility (CSR) und Environmental Social Governance (ESG) auch in Zukunft verstärkt Eingang in das nationale Unternehmensrecht finden werden.

Konkret plant die Ampel-Koalition eine „geeignete Rechtsgrundlage für Unternehmen mit gebundenem Vermögen“ zu schaffen. Dies deutet auf die Einführung einer neuen Gesellschaftsform hin, deren rechtspraktischer Nutzen in den Rechtswissenschaften bereits seit einiger Zeit lebhaft diskutiert wird: Die „Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit gebundenem Vermögen“. Hierbei handelt es sich um eine Variation der GmbH, die sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass ihr Vermögen dauerhaft in der Gesellschaft gebunden ist (sog. „Asset-Lock“). Gesellschafter können zwar Stimm- und Teilhaberechte ausüben, ihnen steht aber – anders als bei einer gewöhnlichen GmbH – kein Recht auf Gewinnausschüttungen zu. Der erzielte Gewinn verbleibt vielmehr in der Gesellschaft. Durch die Abkehr vom Prinzip der Gewinnmaximierung zu Gunsten der Gesellschafter soll die Verfolgung von nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Unternehmenszielen gefördert werden.

Neben der Einführung einer neuen Gesellschaftsform könnte es außerdem zu den im französischen Recht bereits bekannten staatlichen Zertifizierungen für nachhaltige Unternehmen kommen („société à mission“). Diese gesetzlichen Gütesiegel erlauben es französischen Handelsgesellschaften öffentlich als „société à mission“ aufzutreten, sofern sie bestimmte gesetzlich vorgegebene Anforderungen erfüllen, die ein nachthaltiges Wirtschaften der Gesellschaft garantieren. Die staatliche Zertifizierung bringt zwar keine unmittelbaren rechtlichen Vorteile für die Gesellschaft mit sich, kann aber zu einer Reputationssteigerung gegenüber Anlegern, Kunden und Arbeitnehmern führen.

Fazit

Ob die geplanten Vorhaben des Koalitionsvertrags tatsächlich zu „mehr Fortschritt“ im Unternehmensrecht führen werden, bleibt letztlich abzuwarten. Vor allem bezüglich der Stärkung des gemeinwohlorientierten Wirtschaftenns äußert sich die Ampel-Koalition noch zu vage, als dass diese Frage abschließend beurteilt werden könnte. In jedem Fall sollten sich Unternehmen rechtzeitig auf mögliche Änderungen vorbereiten und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen ergreifen. Hinsichtlich der bevorstehenden Sorgfaltspflichten in Lieferketten sollten die Gesetzgebungsvorhaben auf Unionsebene nicht aus dem Auge verloren werden.

Dr. Timo Fietz

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