Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat nach der Rechtsprechung einen sehr hohen Beweiswert. Dieser kann nur in ganz eng beschränkten Ausnahmefällen erschüttert werden. Ein solcher Ausnahmefall soll nach einem aktuellen Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachsen (Az. 6 Sa 416/23) gegeben sein, wenn es an einer persönlichen Untersuchung des Arbeitnehmers durch den Arzt fehlt. Eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die lediglich auf telefonischen Angaben erfolgte, ließ das LAG ebenso wenig genügen, wie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, welche ohne nähere Angaben zur medizinischen Notwendigkeit einen Zeitraum von mehr zwei Wochen umfasste.
Der Fall: Streit um Entgeltfortzahlung
Das LAG Niedersachsen hatte darüber zu entscheiden, ob einer Arbeitnehmerin, die nach eigener Darstellung krankheitsbedingt arbeitsunfähig gefehlt und entsprechende ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt hatte, ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zustand. Der Arbeitgeber hatte die Entgeltfortzahlung verweigert. Er argumentierte, dass die Bescheinigungen nicht den medizinischen Anforderungen der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) entsprachen. Die Bescheinigungen beruhten größtenteils auf telefonischen Angaben der Arbeitnehmerin gegenüber der sie behandelnden Ärztin. Die Arbeitnehmerin war zu keinem Zeitpunkt persönlich bei der Ärztin vorstellig geworden. Besonders kritisch sah der Arbeitgeber zudem eine von der Arbeitnehmerin vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die eine Krankschreibung für mehr als zwei Wochen enthielt, ohne dass hierfür eine ausreichende medizinische Notwendigkeit dargelegt war.
Die Entscheidung: Beweiswert erschüttert
Das LAG Niedersachsen entschied zugunsten des Arbeitgebers. Das Gericht urteilte unter Verweis auf die aktuellste Rechtsprechung des BAG, dass der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen wegen Verstoßes gegen die Vorgaben der AU-RL erschüttert ist. Dies deshalb, weil die von der Arbeitnehmerin vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausschließlich auf telefonischen Angaben der Arbeitnehmerin beruhten, ohne dass eine persönliche Untersuchung durch die behandelnde Ärztin erfolgt war. Dieser Umstand stehe nach Ansicht des LAG Niedersachsen im Widerspruch zu den Vorgaben der AU-RL, die eine persönliche Untersuchung als unverzichtbaren Standard vorgibt. Eine telefonische Konsultation genügt diesen Anforderungen regelmäßig nicht.
Zudem ist nach Ansicht des LAG Niedersachsen der Beweiswert einer ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von über zwei Wochen jedenfalls auch dann als erschüttert anzusehen, wenn hierfür keine ausreichende medizinische Grundlage ersichtlich ist, eine solch lange Krankschreibung insbesondere nicht nach Art der Erkrankung oder aufgrund des Krankheitsverlaufs sachgerecht erscheint. Hinzu kam, dass die Arbeitnehmerin auch nachträglich nicht die konkreten Symptome darlegen konnte, aufgrund derer sie im Zeitraum der behaupteten Arbeitsunfähigkeit angeblich nicht ihrer Tätigkeit nachgehen konnte.
Konsequenzen für die Praxis:
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen haben zwar weiterhin einen hohen Beweiswert. Gleichwohl rückt die Rechtsprechung zunehmend von dem vormals nahezu unantastbaren Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab. Für Arbeitgeber eröffnet die zu begrüßende Rechtsprechungsänderung im Einzelfall neue Möglichkeiten, bei Auffälligkeiten, die sich aus konkreten Anhaltspunkten ergeben, das Bestehen eines Entgeltfortzahlungsanspruchs zu hinterfragen und ggf. sogar die Entgeltfortzahlung zu verweigern.